
Manchmal reist man nur so weit wie eine Katze springt und landet schon in anderen Welten. So erging es mir am vergangenen Freitag, als ich die Weltpremiere “Holo Harmonies” in Baden-Baden besuchte.
Von Stuttgart aus ein Katzensprung. Doch dieses Mal landete ich in einem einzigartigen bilateralen Ballett mit der romantischen Musik von Franz Schuberts “Death and the Maiden” erweitert von Sven Helbigs elektronischen Komposition.
Per Hologramm-Übertragung vereinen sich das Konzert im Festspielhaus Baden-Baden und die Ballettaufführung in der Staatsoper Prag.

Als fotorealistische Lichtprojektionen mit Hilfe von Motion Capture und Extended Reality-Technologien stehen das Stuttgarter Kammerorchester mit Komponisten und Musiker Sven Helbig und das Tschechische Nationalballett in Echtzeit auf der jeweils anderen Bühne.
Tänzer und Musiker bewegen sich in einem Bühnenbild aus 3D-Animationen; teils vorproduziert, teils audio-reaktiv interagieren sie live mit dem Bühnengeschehen. Das multidisziplinäre Team arbeitete über vier Jahre daran, ihre Vision dieses liquiden Kunstwerks zu realisieren.

In enormer Intensität und klanglicher Exzellenz erleben wir, ohne Headset, viele Zeiten und viele Welten in einem liquiden bilateralen Triptychon von analogen und elektronischen Klängen mit den expressiven Hologrammen der Tänzer und animierten Farbformationen des Bühnenbilds.

Die Wahl von Franz Schuberts Streichquartett ergänzt vom modernen elektronischen Soundtrack Sven Helbigs, die Matthias Claudius’ Gedicht, in dem es um unser Verhältnis zum Tod und der Erfahrung von Diesseits und Jenseits geht, musikalisch interpretieren, passt perfekt zu dem immersiven Gesamtkunstwerk.

Die pionierhafte Ballettarbeit des internationalen Künstlerkollektivs traf in Baden-Baden und in Prag auf ein begeistertes Publikum, das sich am Ende per Video-Livestream auch noch gegenseitig herzlich begrüßte und gemeinsam für einige Minuten die Künstler auf beiden Bühnen in Echtzeit feierte.

Allein dieses Signal, wie Völkerverständigung heute geht, ist ermutigend und wunderschön. Doch auch der kluge und sorgfältige Einsatz der unterschiedlichen Musiken mit Hilfe von Kulturtechnologien unterschiedlicher Epochen, macht Mut für die Zukunft.

Wertvolle Geschichten können mit immersiven Technologien produziert werden und viele diverse Menschen erreichen. Diesen Kultur- und Bildungsauftrag erfüllen “Holo Harmonies” wie nebenbei.
Ganz im Sinne der ästhetischen Theoretiker eines Gesamtkunstwerks in Europa, in dem Natur und Kunst eins werden.

Zum ersten Mal von Friedrich Schilling 1802 beschrieben, von zahlreichen ästhetischen Theoretikern von Richard Wagner, bis Wassili Kandinsky, Edward Gordon Craig und Odo Marquardt, aufgenommen, umfasst es viele oder alle Kunstgattungen, und vereint politische und ästhetische Diskurse.
Für mich bleibt es sehr spannend, weitere Experimente dieser Art zu verfolgen, und zu sehen, wie immersive Gesamtkunstwerke die 2D-Guckkastenbühne und den Bilderrahmen verlassen und das Raumerlebnis, ohne Headset, perfektionieren, so wie es “Sphere” in Las Vegas und “ABBA Voyage” in London bereits austesten.
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